Zetteluniversum. Bei kaum einer anderen Autorin liegen das Leben und das Schreiben so dicht beieinander wie bei Friederike Mayröcker. Eindrucksvolles Zeugnis davon ist die legendäre Wohnung im 5. Wiener Bezirk, in der die heute 95-jährige Schriftstellerin über Jahrzehnte lebte und arbeitete. Vor Kurzem erwarb das Literaturarchiv der ÖNB das gesamte Material aus dieser Wohnung als Vorlass. Alumnus Bernhard Fetz, Direktor des Literaturarchivs und Literaturmuseums der ÖNB, erzählt im Interview von dieser besonderen archivarischen Herausforderung und verrät, welche Themen in den neu entdeckten Texten stecken und was das Literaturmuseum damit vorhat.
Leseprobe aus dem Schwerpunkt:
Das Leben und das Schreiben
Text: Siegrun Herzog
univie: Mehrere Hundert Archivboxen voller Notizen, Textentwürfe, Briefe, Fotos, Zeichnungen und persönlicher Gegenstände werden es vermutlich am Ende werden – das ist der Schatz, den Sie und Ihre Mitarbeiter*innen derzeit bergen und bearbeiten. Was ist dabei die größte Herausforderung?
Bernhard Fetz: Für mich ist es definitiv die größte archivarische Herausforderung in meiner Berufslaufbahn. Das ist ja eine legendäre Wohnung, die oft fotografiert wurde und Kultcharakter hat. In langen Gesprächen sind wir mit Friederike Mayröcker zu einer Übereinkunft gekommen. Das hängt natürlich mit ihrem Alter zusammen und mit der Vertrauensbasis, die ich seit vielen Jahren mit ihr habe, aber auch mit Ernst Jandl, ihrem langjährigen Lebenspartner, dessen Nachlass auch hier im Literaturarchiv lagert. Die Herausforderung konkret ist, diese Dinge jetzt konservatorisch gut zu verpacken, zu ordnen, zu sichten und ins Archiv zu bringen. Wir schlagen buchstäblich Schneisen in diesen Zettelwald, und jetzt sieht es schon nicht mehr ganz so aus wie auf den legendären Fotos. Wir bringen das Material ins Archiv und beginnen auch schon zu ordnen.
univie: Was finden Sie?
Bernhard Fetz: Wir stoßen auf ganz viel unveröffentlichte frühe Prosa, Manuskripte, Briefe, Lebensdokumente und auch Fotos. Wir finden aber auch Sammlungen befreundeter Künstler*innen. Das Faszinierende ist, dass die Materialien in dieser Wohnung tatsächlich bis in die Schreibanfänge der Autorin vor dem Zweiten Weltkrieg zurückgehen.
„Wie Mayröcker selbst sagt, ist es ganz schwierig, einen Platz zu finden für Gäste, wo man sich hinsetzen und eine Tasse Tee abstellen kann.“
Univ.-Doz. Dr. Bernhard Fetz,
Direktor des Literaturarchivs und Literaturmuseums der ÖNB, Alumnus der Germanistik, Publizistik und Romanistik der Uni Wien
univie: Treffen Sie auf die gern zitierte „Ordnung“, die Frau Mayröcker in diesem Zetteluniversum angeblich hat?
Bernhard Fetz: In sich sind die Dinge geordnet, darum muss man aufpassen, dass man die Zusammenhänge nicht auseinanderreißt. Sie hat mit Wäscheklammern immer Dinge, die zusammengehören, zusammengeheftet, Briefwechsel etwa oder Gedichte wahlverwandter Autor*innen, zu denen sie Texte geschrieben hat, das hat sie dann meist in Plastikkörben abgelegt. Da wurde aber immer mehr draufgelegt, immer wieder und immer wieder und irgendwann geht das über, das macht sie auch jetzt noch, dann kommen der nächste Wäschekorb und die nächsten Wäscheklammern oder Mappen, und das wird alles übereinandergestapelt. Also in sich lässt sich meistens schon ein gewisser Zusammenhang erkennen, im Großen erscheint aber alles wie ein undurchdringliches Chaos.
univie: Was davon wird digitalisiert?
Bernhard Fetz: Zuerst einmal wird das Material katalogisiert, das ist die formale Erfassung. Digitalisiert wird vorerst nur schwerpunktmäßig, für Projekte etwa. Wir haben ja auch die Nachlässe von Ingeborg Bachmann und Robert Musil, die nationales Kulturerbe sind, die werden digitalisiert und sind zum Teil auch mit digitalen Editionsprojekten verbunden. Das werden wir bei Mayröcker zumindest schwerpunktmäßig oder mit dem Blick auf die Sicherung von bestimmten Dingen auch machen.
univie: Was war bisher das bemerkenswerteste Stück, das Sie in der Wohnung gefunden haben?
Bernhard Fetz: Eigentlich Zeichnungen, eine ganze Mappe mit Zeichnungen, die ich liebe, weil sie so unprofessionell sind, aber trotzdem zeichnerisches Talent zeigen, und weil sie oft an der Grenze von Sprache, Text und Zeichnung stehen. Und ganz frühe Fotoalben, die Mayröcker als Jugendliche, als junge Frau zeigen.
univie: Darf man auch etwas wegwerfen?
Bernhard Fetz: Archivare, die nichts wegwerfen, haben ihren Beruf verfehlt! Man muss natürlich immer auch ein bisschen die Spreu vom Weizen trennen. Zuschriften, die keinerlei Werkbezug aufweisen, oder etwas, das in mehrfacher Kopie da ist, das kann man auch wegwerfen.
Friederike Mayröcker zur Uni Wien:
„Ich wollte unbedingt studieren. Es war mein großer Wunsch, Kunstgeschichte zu studieren, aber es ist leider nicht gelungen, das hat mich sehr traurig gemacht, immer noch. Aber damals nach dem Krieg war alles sehr schwierig.“
Friederike Mayröcker mit ihrer Adoptivtochter Edith Schreiber in jener Wohnung, in der sie für Jahrzehnte gelebt und gearbeitet hat.
univie: Erinnern Sie sich noch, als Sie das erste Mal diese Wohnung betreten haben?
Ich kannte sie von Fotos und wir haben schon Ende der 1990 er-Jahre einen Band und eine Ausstellung über das Entstehen von Texten gemacht, „Der literarische Einfall“, da haben wir ein MayröckerZimmer inszeniert. Aber tatsächlich betreten habe ich die Wohnung erst Jahre später. In den letzten Monaten war ich häufig dort. Ich war auch öfters in der aktuellen Schreibwohnung Mayröckers, die ein Stockwerk höher liegt und die ebenso zugewuchert ist; dieses Material ist ebenfalls Bestandteil des Vertrages, wir werden das zu einem späteren Zeitpunkt übernehmen. Wie sie in einem Filmporträt auch sagt, ist es ganz schwierig, einen Platz zu finden für Gäste, wo man sich hinsetzen und eine Tasse Tee abstellen kann. Sie ist für mich wirklich eine einzigartige Autorin, ich kenne kaum eine ähnliche Position einer Autorin, die auf diese Weise lebt und schreibt über so lange Zeit.
univie: Erwarten Sie durch die Aufarbeitung des Mayröcker-Materials auch neue Themen, neue Aspekte im Zusammenhang mit Ernst Jandl?
Bernhard Fetz: Ja, die beiden waren ja Lebensgefährt*innen und Verbündete in der Literatur, zugleich über Jahrzehnte ein schreibendes Paar. Vom Genderaspekt her ist das auch sehr interessant, da könnte noch einiges drinnenstecken. Es war schon ein gleichberechtigtes Schreiben, geprägt von großer gegenseitiger Wertschätzung. Wobei, er war der Entertainer, der Performer, er stand in der Öffentlichkeit, das hat durchaus eine Rolle gespielt. Andererseits war sie unangefochten und hatte auch ihre Fangemeinde, ihre Leser*innen. Sie hatte viele Verbindungen zur Musik und zur bildenden Kunst, auch zur Architektur. Diese Interdisziplinarität, diese kulturelle Vielfalt ist ja eine gewisse Form eines positiven oder alternativen Weltentwurfs, wodurch sich gerade die österreichische Kunst und Literatur im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auszeichnet – Stichwort Wiener Moderne, aber auch nach 1945 wieder. Und dahingehend ist das Material auch sehr interessant.
univie: Was haben Sie mit dem Material vor?
Bernhard Fetz: Ich denke an eine Ausstellung, die wir in einigen Jahren im Literaturmuseum machen wollen. Und ich könnte mir auch vorstellen, dass wir Teile davon irgendwann in einer digitalen Edition bearbeiten. Das sogenannte äußere Leben von Friederike Mayröcker ist nicht so ereignisreich wie bei vielen anderen Persönlichkeiten, interessant ist wirklich das innere Leben und diese unglaubliche Vielfalt in den verschiedenen Büchern. Auch die Gedichte sind ganz verschieden, manchmal an die Alltagssprache angenähert und dann wieder höchst experimentell. Also ich glaube, wenn man etwas macht über sie, müsste man das beschreiben.
univie: Wie verändert die Digitalisierung die Archive?
Bernhard Fetz: Es wird immer mehr digital produziert, deshalb schauen natürlich auch die Archive anders aus. Bei Mayröcker ist das überhaupt nicht der Fall, sie schreibt immer noch auf ihrer „Hermes Baby“ und sie hat sich fünf oder sechs Maschinen gekauft, die bis ans Lebensende reichen werden.
Wir müssen uns überlegen, was sammeln wir eigentlich in Zukunft? Die sozialen Netzwerke, Netzliteratur, wo ist da die Grenze, wie sieht das rechtlich aus, was dürfen Archive, was sollen Archive? Durch die Möglichkeiten der digitalen Präsentation von Objekten bieten sich schon auch faszinierende Möglichkeiten. Archive sind viel offener als früher, sie bieten natürlich viel mehr Material digital an, sie sind viel selbstbewusster, machen Ausstellungen, Bücher, Editionen. Und wie in unserem Fall verbinden sie Wissenschaft, Museum und Archiv, und das finde ich äußerst reizvoll. •