Spielart des Populismus. Katalonien erlebt derzeit mit der Unabhängigkeitsbewegung ein neues Aufflammen von Nationalismus. Der Historiker Oliver Hochadel berichtet, wie es sich anfühlt, in einer gespaltenen Gesellschaft zu leben.
Text: Oliver Hochadel
Als ich am späten Nachmittag des 27. Oktobers letzten Jahres von meinem Büro zur U-Bahn ging, kamen mir Heerscharen glücklicher Menschen entgegen. Singend und ihre Fahnen schwenkend strömten sie vom katalanischen Parlament zum Plaça Sant Jaume, dem zentralen Platz der Altstadt. „Fora, fora, la bandera espanyola“, skandierten sie im Chor. Nieder mit der spanischen Flagge. Eine Stunde zuvor war die katalanische Republik ausgerufen worden. Ich dachte nur eines: „F..k nationalism“.
Wir leben seit über 10 Jahren in Barcelona. Es war so schön hier. Aber seit gut einem Jahr geht ein tiefer Riss durch die katalanische Gesellschaft und das schlägt sich auch im Alltag nieder. Sehr viele unserer Freunde und Arbeitskollegen sind Befürworter der Unabhängigkeit, „independistas“. Jahrelang erzählten sie mir, wie sie von Madrid ausgebeutet und schlecht behandelt wurden, seit Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten. Nach der Eskalation im letzten Herbst aber reden wir kaum mehr über Politik. Wir wissen, dass wir grundlegend verschiedener Meinung sind, und wer liefert sich schon gern hitzige Wortgefechte mit Menschen, die einem ans Herz gewachsen sind. Und so entstehen große Blasen, Parallelwelten, in denen jede Seite „ihre“ Medien konsumiert und sich gegenseitig in ihrer Sicht der Dinge bestärkt.
Befürworter der Unabhängigkeit Kataloniens demonstrieren auf den Straßen Barcelonas. Am 11. September 2018,
dem katalanischen Nationalfeiertag, war fast eine Million Menschen unterwegs.
Die Straße gehört uns, skandieren die Befürworter der Unabhängigkeit selbstbewusst bei Demonstrationen. Der öffentliche Raum ist fest in separatistischer Hand. Zunächst wurde alles mit der „estelada“ zugehängt, der katalanistischen Fahne, die anders als die offizielle katalanische Fahne zusätzlich ein blaues Dreieck mit weißem Stern hat. Seit führende independistas in Untersuchungshaft genommen wurden, hängen überall in Katalonien gelbe Schlaufen als Symbol für die „politischen Gefangenen“. Anti-independistas haben dem nichts entgegenzusetzen, zumal wenn sie, wie ich, keine spanische Fahne aus dem Fenster hängen wollen. Wir haben keine Symbole und auch kein emotional verbindendes Narrativ, im Gegensatz zu den „unterdrückten und freiheitsliebenden“ independistas.
Die katalanische Unabhängigkeitsbewegung ist eine Spielart des Populismus, wie wir sie derzeit auf beiden Seiten des Atlantiks erleben müssen. Die independistas setzen sich selbst mit dem Volk gleich („el poble català“). Dabei haben sie gerade mal 47,5 Prozent bei den letzten Wahlen im Dezember erhalten, die expliziten Gegner der Unabhängigkeit 43,45 Prozent (7,46 Prozent entfielen auf eine Partei, die dazwischensteht). Wir anderen, die hier leben, aber keine unabhängige Republik wollen, kommen im politischen Entwurf der independistas schlicht nicht vor.
Ein Großteil der Rathäuser, die Verwaltung, das katalanische Fernsehen und auch die Schule sind fest in katalanistischer Hand. Ob und wie stark versucht wird, die Schüler zu politisieren, hängt letztlich stark vom einzelnen Lehrer ab. In der Grundschule unserer Töchter gibt es einige (an sich wunderbare) Pädagoginnen, die beim Geschichtsunterricht vom jahrhundertelangen, heroischen Widerstand der Katalanen gegen die spanische Zentralmacht erzählen. Als Historiker möchte ich aufschreien angesichts dieser Geschichtsklitterungen. Aber unsere Kinder können sich ohnehin nicht mit diesen nationalistischen Narrativen identifizieren und schalten gelangweilt ab. Es gibt aber noch mehr Dinge, die mich wütend machen. Am schlimmsten ist der unreflektierte Gebrauch des Faschismusvorwurfs, mit dem nicht alle, aber doch viele independistas ihre Gegner verunglimpfen. So werden die Opfer der Franco-Diktatur verhöhnt.
Zum Selbstbild der independistas gehört ihr „civisme“, also dass sie sich stets gut betragen. Und es stimmt, wir sind noch nie in irgendeiner Weise angegangen worden. Man hat uns immer mehr als pfleglich behandelt. Als Ausländer zehren wir wohl auch von einem gewissen Naivitätsbonus. Wie es weitergeht, weiß niemand so recht. Wenn die jeweiligen Blasen nicht platzen, wird es schwierig bleiben. •
Dr. Oliver Hochadel ist Historiker in Barcelona, von 1996–2007 lebte er in Wien und war unter anderem an der Universität Wien als Lektor tätig.