Judikative. Der Verfassungsgerichtshof ist einer der wichtigsten Eckpfeiler des Rechtsstaats Österreich. 14 RichterInnen wachen dort über die Einhaltung der Verfassung. univie hat die neue Präsidentin Brigitte Bierlein im Haus auf der Freyung besucht, das so alt wie die österreichische Verfassung ist.
Interview: Siegrun Herzog
univie: Welche Rolle spielt die Politik im Verfassungsgerichtshof?
Brigitte Bierlein: Der Verfassungsgerichtshof ist als einziges Gericht zwischen Politik und Recht angesiedelt, weil er die Kompetenz hat, Gesetze zu prüfen und auch aufzuheben. Wie in praktisch allen anderen Ländern ist daher die Politik für die Ernennung der 14 RichterInnen zuständig: Das Vorschlagsrecht liegt bei Bundesregierung, Nationalrat und Bundesrat, ernannt werden die Mitglieder vom Bundespräsidenten. Aber die Politik spielt eine wesentlich geringere Rolle, als von außen oft angenommen wird, weil die RichterInnen ihre Unabhängigkeit tatsächlich leben.
univie: Wie kommen Entscheidungen der 14 VerfassungsrichterInnen zustande?
Bierlein: Entscheidungen fallen sehr oft mit großer Stimmenmehrheit oder einstimmig. Manchmal sind die Abstimmungen aber auch sehr knapp. Das Abstimmungsverhalten unterliegt dem Amtsgeheimnis, es darf nicht nach außen kommuniziert werden. Ich glaube, manchmal würden sich die entsendenden Gremien wundern, wie „ihre“ RichterInnen gestimmt haben.
univie: Warum können manche VerfassungsrichterInnen für etwas, andere gegen etwas sein, sodass dann abgestimmt wird. Ist Recht nicht Recht, von allen gleich interpretiert?
Bierlein: Es ist nicht alles schwarz oder weiß, selbst die Verfassung ist nicht in allen Punkten eindeutig formuliert. Unsere Aufgabe ist es dann, in diesen Fällen für Klarheit zu sorgen. Dabei berücksichtigen wir immer die bisherige Judikatur – und wenn wir davon abgehen, wird das eingehend begründet. Natürlich hat auch jeder Richter/jede Richterin eine bestimmte Einstellung, die sich auch ändern kann. Ich zum Beispiel merke, dass ich altersmilde werde.
Wir machen uns die Entscheidungen aber nicht leicht. Die Frage der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare etwa haben wir eingehend diskutiert. Letztlich war dann das Diskriminierungsverbot, das wir in der Judikatur aus dem Gleichheitsgrundsatz ableiten, ausschlaggebend. Auch bei der Anfechtung der Bundespräsidentenwahl haben manche KollegInnen und MitarbeiterInnen bis weit in die Nächte gearbeitet, damit wir die gesetzliche Entscheidungsfrist von vier Wochen einhalten konnten.
univie: Ist die steigende Zahl an Anträgen an den VfGH eigentlich als ein Indikator für lebendige Demokratie zu sehen, sprich viele Menschen bringen Beschwerde ein und setzen sich für ihre Grundrechte ein?
Bierlein: Ich glaube schon, dass das Bewusstsein der Menschen für demokratische Werte gestiegen ist und sie alle rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen versuchen. Im Vorjahr sind bei uns 5.047 Fälle neu angefallen, um 30 Prozent mehr als im Jahr davor. Man muss aber auch dazusagen, dass über alle Verfahrensarten hinweg nur sechs Prozent der Anträge und Beschwerden erfolgreich sind, bei Gesetzesprüfungen allein sind es zehn Prozent.
univie: Sie stehen nun, als erste Frau, dem Verfassungsgerichtshof als Präsidentin vor. Wie werden Sie Ihr Amt anlegen?
Bierlein: Mir liegt daran, dass wir die auch im internationalen Vergleich äußerst kurze Erledigungsdauer von viereinhalb Monaten halten können. Vor allem aber ist es mir ein Anliegen, die für unseren Rechtsstaat so wichtige hohe öffentliche Akzeptanz des Gerichtshofes und seiner Entscheidungen zu bewahren. •
Dr. Brigitte Bierlein ist Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs und Alumna der Rechtswissenschaften der Universität Wien.