Unser anderes Hirn. Ob bei Prognosen, in der Diagnose, bei der Suche nach Impfstoffen und Medikamenten oder als Helferlein auf Straßen und in Krankenhäusern – angesichts der aktuellen COVID-19-Pandemie wird ein weites Experimentierfeld sichtbar, wo Robotik und künstliche Intelligenz bereits eingesetzt werden können. Wie diese Entwicklungen zu bewerten sind und welche Fragen dabei auftauchen, haben wir Expert*innen aus der Informatik und der Technikphilosophie gefragt.
Leseprobe aus dem Schwerpunkt:
Künstliche Intelligenz in Zeiten von Corona
Text: Siegrun Herzog
Ausgestattet mit hochauflösenden Kameras patrouilliert er in den Straßen von Shanghai. Mit abgehackter Stimme ermahnt der Polizei-Roboter die Passant*innen, die Hygienevorschriften zu befolgen,
Mund-Nasen-Schutz zu tragen und nach Hause zu gehen. Ein paar ältere Frauen blicken irritiert, bevor sie rasch in einen Hauseingang verschwinden. Ein junger Mann macht ein Selfie mit dem chinesischen „Robocop“.
So selbstverständlich wie in Chinas Städten, aus denen uns Bilder wie diese erreichen, gehören Roboter hierzulande nicht ins Straßenbild, noch nicht? Dass Roboter in Wiens Gassen und Plätzen auf Patrouille gehen, sei selbst in Zeiten von Corona schwer vorstellbar, meint Janina Loh, die im Bereich Technik- und Medienphilosophie an der Universität Wien forscht. Die meisten Menschen würden sich wohl entweder erschrecken oder diese erst gar nicht ernst nehmen, vermutet die Technikphilosophin. Denn anders als in asiatischen Gesellschaften, wo es bereits eine viel längere Kultur der Auseinandersetzung und des In-Beziehung-Tretens mit technischen Objekten wie Robotern gibt, nimmt dieser Prozess bei uns gerade erst an Fahrt auf, so Loh.
Künstliche Kreaturen. Angesichts der aktuellen Corona-Krise gewinnt man den Eindruck, Robotern – oder allgemeiner künstlicher Intelligenz (KI) – wird in der Bekämpfung dieser globalen Pandemie eine ganz besondere Rolle zugeschrieben. In China wie auch in den USA, in Kolumbien, Italien oder Tunesien unterstützen Roboter wie der oben genannte nicht nur die Polizei bei ihren Rundgängen, sie messen Fieber oder verabreichen Medikamente an infizierte Personen, sie liefern Essen aus oder desinfizieren Krankenhausgänge.
„Ich habe deutlich gespürt, wie anders es ist, mit Freund*innen und geliebten Menschen nur digital in Verbindung sein zu können. Dass wir uns über Skype zumindest sehen können, ist zwar gut, aber den körperlichen Kontakt kann das nicht ersetzen. Ob Roboter das könnten? Es gibt Menschen, die sich in Maschinen verlieben, und solche, denen eine künstliche Umarmung nichts geben würde. Ich denke, das ist wohl eine sehr
individuelle Frage.“
Dr. Janina Loh, Technikphilosophin, Universität Wien
Dirty, dull and dangerous. Es sind in erster Linie die schmutzigen, repetitiven und gefährlichen Arbeiten, die Roboter für uns übernehmen sollen. „Doch wer entscheidet, welche Arbeiten das konkret sind? Und warum sollten wir nicht auch, zumindest auf Wunsch, solche Arbeiten selbst ausüben?“, fragt Loh. Nutzen und Risiken dieser Technologie gehen für die Philosophin Hand in Hand. Sie beschäftigt sich mit ethischen Fragen, die rund um die mehr oder minder schlauen Kerlchen auftauchen. Die Fragen, die Philosoph*innen an Roboter richten, kreisen um Autonomie, Verantwortung und moralische Akteursschaft. „Technik ist nie neutral“, sagt Janina Loh und meint damit, dass die Werte und Prinzipien, die unser menschliches Handeln steuern, auch in die Produkte unseres Handels einfließen. Schon ein relativ unscheinbarer Haushaltsgehilfe wie ein Staubsaugerroboter wirft beispielsweise einen ganzen Fächer an ethischen Fragen auf. Wie weit soll etwa seine Autonomie reichen? Und was geschieht mit den Daten, die er während des Umherfahrens in unserer Wohnung sammelt? „Er sollte vermutlich so programmiert sein, dass er die teure chinesische Vase erkennt und vorsichtig behandelt, dass er der Katze nicht über den Schwanz fahren, Insekten aber einsaugen darf. All das sind ja schon ethische Entscheidungen“, führt Loh aus.
Für die Wissenschafterin steht fest: Sobald wir es eines Tages schaffen, Roboter oder KI zu kreieren, die zumindest so intelligent sind, wie wir Menschen es im Durchschnitt sind, schaffen wir uns künstliche moralische Akteure hinzu. „Konsequenterweise muss man diesen Akteuren dann auch entsprechende Rechte und Pflichten einräumen, denen auch Menschen in unserer Gesellschaft nachkommen müssen.“ Sie sollten etwa auch Sanktionen erfahren, wenn sie gegen die Regeln verstoßen haben. Was so viel heißt wie, auch Roboter könnten „bestraft“ werden, indem sie aus dem Verkehr gezogen und nach einem neuerlichen „Lernprozess“ wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden, spinnt Loh den Gedanken weiter.
Zurück zum chinesischen Polizeiroboter. Er ist angesichts eines hochansteckenden Virus zweifellos praktisch und entlastet die echten Polizist*innen. Wie aber fühlt es sich wohl an, von einer Maschine kontrolliert, ermahnt und nach Hause geschickt zu werden? Und was geschieht mit all den Informationen und Fotos von Passant*innen, die bei diesen Kontrollgängen gesammelt werden? Dass die Akzeptanz gegenüber Robotern hierzulande ausgerechnet in der Corona-Zeit steigt, glaubt Loh nicht. „Auch in der Industrie, wo Roboter schon seit Langem eingesetzt werden, haben die Menschen schließlich länger gebraucht, sie als künstliche Arbeitsgefährten zu akzeptieren.“
„Die Corona-Krise hat einen riesen Digitalisierungs-Boost gebracht und hat gezeigt, dass Homeoffice funktionieren kann. Dass man dabei manchmal bis spät in die Nacht arbeitet, ist die Kehrseite dieser Arbeitsform. Ich bin nicht nur einmal bis 5 Uhr in der Früh
am Schreibtisch gesessen.“
Univ.-Prof. Helmut Hlavacs, Informatiker, Universität Wien
Algorithmischer Alltag. Wenn auch nicht unbedingt in Form von Robotern, so treffen wir doch in unserem Alltag ständig auf künstliche Intelligenz. Sobald wir eine Suchmaschine verwenden oder Webseiten besuchen, beobachten, analysieren und bewerten Algorithmen unser Online-Verhalten und versuchen aus dieser Wolke an riesigen Datenmengen verwertbare Informationen abzusaugen. „Jedes Mal, wenn wir in irgendeiner Form online interagieren, müssen wir davon ausgehen, dass wir mit unseren Daten Machine-Learning-Algorithmen füttern, die im Hintergrund laufen“, stellt der Informatiker Helmut Hlavacs fest, der die Forschungsgruppe Entertainment Computing an der Uni Wien leitet. Jede*r Konsument*in liefert bereits in dem Moment, in dem er oder sie das Smartphone einschaltet, Daten dafür zu.
Auf Basis von Big Data, die mittels einer KI ausgewertet wurden, kam auch die erste Warnung vor der COVID-19-Pandemie heraus – und zwar bereits Ende Dezember vergangenen Jahres, neun Tage vor der offiziellen Warnung durch die WHO. Aus der Verschiebung von Daten, wie sie etwa durch ein verändertes Online-Verhalten von Nutzer*innen entsteht, habe man in regionalen Veränderungen erkennen können, dass da etwas kommt, so Hlavacs. Denn: „Je mehr Menschen krank werden, desto stärker verändern sich die Daten, die von diesen Menschen produziert werden. Jemand ist beispielsweise sehr aktiv auf Facebook. Wenn er krank wird, reduziert er das oder stellt es ganz ein.“ Unternehmen – wie in diesem Fall das kanadische Health-Monitoring-Unternehmen BlueDot – setzen u. a. Machine-Learning ein, um Daten aus verschiedensten Quellen herauszufiltern. Auch wenn anfangs noch unklar war, was denn dieses „Etwas“, das da auf uns zukommt, eigentlich ist und wie es zu bewerten ist. „Ab diesem Zeitpunkt müssen Menschen übernehmen, Wissenschafter*innen, Ärzt*innen, Epidemiolog*innen. Nur sie können letztlich einschätzen, worum es sich handelt, wie gefährlich die Sache ist oder wie sie sich ausbreitet, und die entsprechenden Entscheidungsprozesse einleiten“, so der Informatiker.
Auf Einblicke aus großen Datenmengen setzt auch Elaheh Momeni. Die Informatik-Alumna und CTO der KI-Firma eMentalist hat ein neues Tool entwickelt, das spezielle Fragestellungen rund um COVID-19 mittels künstlicher Intelligenz analysiert. Das „COVID-19-Radar“ erstellt auf Basis einer Vielzahl von Medienberichten, Newsbeiträgen sowie SocialMedia-Inhalten Analysen und visualisiert die Ergebnisse. So lassen sich etwa Stimmungsbarometer anfertigen, die zeigen, wie Staatschef*innen einzelner Länder in den vergangenen Wochen und Monaten wahrgenommen wurden und wie sich deren Image in Abhängigkeit zu gesetzten politischen Maßnahmen verändert hat. „Anhand dieser usergenerierten Daten, wie wir sie über Social Media bekommen, kann man im Gegensatz zu einer klassischen Umfrage viel schneller sehen, wie Menschen auf bestimmte Maßnahmen reagieren“, betont Momeni. Um herauszufinden, welche Emotionen über die Sprache transportiert werden, müsse die KI lernen, welche Wörter sie beispielsweise als aggressiv zu bewerten hat und welche positiv besetzt sind.
„Aktuell muss sich einfach jedes Unternehmen mit der Digitalisierung beschäftigen. Ich sehe das sehr positiv. Viele Firmen experimentieren jetzt mit verschiedenen KI-Tools und kommen mehr und mehr auf den Geschmack. Auch wir haben in den letzten Monaten extrem viel dazugelernt und das fand ich sehr spannend.“
Dipl.-Ing. Dr. Elaheh Momeni, Informatik-Alumna, CTO der KI-Firma eMentalist
Dass für ihre Auswertungen nur öffentlich zugängliche Daten herangezogen werden, ist Momeni wichtig zu betonen. „Ich bin gegen aggressives Datensammeln, ohne die Interessen von User*innen zu berücksichtigen. Aber ich sehe keinen Unterschied darin, ob ein Mensch diese Informationen liest oder eine Maschine. Die Daten sind öffentlich und die User*innen sollten das wissen.“ Die Flut an Corona-bezogener Information im Internet sei derzeit jedenfalls enorm, so die Daten-Expertin. Über 1.000 Seiten mit relevanten Posts und Artikeln pro Tag ließen sich dieser Tage über Suchmaschinen finden, das sei wirklich anders als bei bisherigen Fragestellungen. „Mit diesen hochdynamischen Real-time-Daten zu arbeiten, sehe ich als ein spannendes Experimentierfeld. Wir können hier sehr viel lernen, was uns vielleicht auch in einer anderen Krise nützlich sein kann“, so Momeni.
Maschinenhirn. Maschinen brauchen Daten, um lernen zu können. Je mehr Daten sie bekommen, umso besser lernen sie und umso höher ist die Genauigkeit, mit der letztendlich Schlussfolgerungen gezogen werden können. Gerade im Gesundheitsbereich ist die Verfügbarkeit von ausreichenden Datenmengen aber oft ein Problem, stellt Helmut Hlavacs fest. Denn: „Wir brauchen immer einen Menschen dahinter, einen echten Fall, der diese Daten liefert“, so der Informatiker. Und das scheitere auch oft am Datenschutz. Anhand eines Datensatzes aus Computertomografie-Aufnahmen von Patient*innen aus China, die an Lungenentzündungen durch COVID-19 erkrankt waren, lernt eine KI nun, zwischen Lungenentzündungen bedingt durch den Coronavirus und „normalen“ Lungenentzündungen zu unterscheiden. „Die Genauigkeit liegt bereits bei über 90 Prozent, das hört sich schon recht gut an, muss aber noch höher werden, um verlässliche automatisierte Aussagen treffen zu können“, so Hlavacs.
Die Nadel im Heuhaufen. Weltweit werden derzeit Kapazitäten gebündelt, um – maßgeblich unterstützt von KI – gegen das Coronavirus vorzugehen, allen voran bei der Suche nach Impfstoffen und Medikamenten. Fieberhaft gesucht wird etwa nach chemischen Verbindungen, die gegen das Virus eingesetzt werden können. Zentrales Problem dabei: Milliarden von Wirkstoffen und Molekülen kommen dafür theoretisch in Frage. Mittels KI werden die vielversprechendsten Verbindungen ausfindig gemacht; die Ergebnisse stehen Forscher*innen weltweit zur weiteren Testung zur Verfügung. Um Forschung wie diese zu ermöglichen, braucht es höchstmögliche Rechenleistungen. Unterstützung dafür kommt auch vom Vienna Scientific Cluster, einem Zusammenschluss mehrerer österreichischer Universitäten – darunter die Uni Wien –, die Ressourcen ihrer Supercomputer zur Verfügung stellen.
Roboter und Algorithmen helfen uns zwar, das COVID-19-Virus zu bekämpfen, Universalwaffe seien sie aber nicht, schreibt Janina Loh im Think-Tank-Blog der Stadtzeitung „Falter“ und kritisiert damit das Narrativ einer KI als artifizielle Retterin, die an unserer Stelle in den Krieg gegen das tödliche Virus zieht. Einer KI sei keine Akteursschaft an sich zuzuschreiben, vielmehr seien es jeweils sehr unterschiedliche, sehr spezifische Formen maschinellen Lernens, neuronaler Netze und algorithmischer Systeme, die in Diagnose und Prognose zum Einsatz gelangen. Neu sind all diese KI-basierten Anwendungen freilich nicht, seit Corona ist das Potenzial, das künstliche Intelligenz zweifelllos zu bieten hat, aber stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt. •