Mobiles Leben. Alle paar Jahre ziehen sie weiter, in eine andere Stadt, ein anderes Land, manchmal sogar auf einen anderen Erdteil. Wie viel Zwang steckt hinter dieser Mobilität? Und wie viel Freiheit und Bereicherung bedeutet sie jenen, für die ein mobiles Leben zur Normalität geworden ist? Alumni und WissenschafterInnen über das Weggehen, Unterwegssein, Zurückkehren und Daheimsein an mehreren Orten.
Leseprobe aus dem Schwerpunkt:
Im Mobilitätskarussell
Text: Siegrun Herzog
Wenn Markus Muttenthaler dieser Tage im fernen Brisbane seine Umzugskisten packt, dann ist das kein Abschied für immer. Der Medizinchemiker gehört zu jenen glücklichen 13 Prozent, deren Antrag für einen der begehrten, hochdotierten Forschungspreise des Europäischen Forschungsrates erfolgreich war. Der ERC Starting Grant ermöglicht dem gebürtigen Niederösterreicher weitgehend sorgenfreie fünf Jahre, in denen er seine Forschung über die Wirksamkeit von Tiergiften für den therapeutischen Einsatz beim Menschen weiter vorantreiben kann. Dafür verlegt Muttenthaler seinen Lebensmittelpunkt von Brisbane, wo er seit ein paar Jahren an der University of Queensland arbeitet, wieder nach Wien. „Am Institut für Biologische Chemie finde ich ideale Bedingungen für meine Forschung, die Uni Wien hat mich bei der Antragstellung sehr unterstützt“, zeigt sich der Rückkehrer erfreut. Australien ganz den Rücken kehren wird der Medizinchemiker aber nicht, dafür sorgt nicht zuletzt sein Forschungsgebiet. Die Wahrscheinlichkeit, auf giftige Tiere zu treffen, ist in Australien zweifellos größer als in Österreich. „Man braucht nur vor die Haustüre gehen oder ein paar Meilen fahren und schon findet man giftige Spinnen, Skorpione oder Tausendfüßler“, schwärmt Muttenthaler, der plant, weiterhin zumindest drei Mal im Jahr nach Australien zu kommen, um die benötigte „Giftbibliothek“ wieder aufzufüllen – unter anderem mit dem Gift der Kegelschnecke, die etwa am Barrier Reef zu finden ist. Und auch seine DoktorandInnen in Brisbane will der Wissenschafter weiter betreuen sowie die Zusammenarbeit zwischen den Labors in Wien und Brisbane vertiefen.
Die ERC Grants werden höchst kompetitiv vergeben, Universitäten sehen sie daher als Qualitätsausweis für ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit. Dass Internationalität nicht nur ein Qualitätsmerkmal, sondern sogar ein zentrales Wesen der Wissenschaft ist, steht für Jean-Robert Tyran, seit Februar 2018 Vizerektor für Forschung und Internationales, außer Frage. „Wissenschaft ist inhärent international“, ist Tyran überzeugt. Die Universität Wien beruft seit vielen Jahren international, mit einem Schwerpunkt in der DACH-Region (Deutschland, Österreich, Schweiz). Was auf den ersten Blick vielleicht problematisch erscheine, tue der Internationalität aber keinen Abbruch, versichert Tyran. Vor allem wenn jemand lange im Ausland war, spielt die eigene Nationalität letztlich eine geringere Rolle, schließlich hätten die KollegInnen aus der DACH-Region ebenfalls ihre Erfahrungen an Universitäten im Ausland im Gepäck. „Wenn man ein internationales Mindset, die Offenheit und den Erfahrungsschatz mitbringt und überdies noch Deutsch spricht, ist das natürlich ein Vorteil“, so Tyran.
„Wissenschaft ist inhärent international.
Ins Ausland zu gehen wird immer einfacher.“
Univ.-Prof. Jean-Robert Tyran Vizerektor für Forschung und Internationales
Universität Wien
Der Wirtschaftswissenschafter kam selbst aus der Schweiz über Stationen in Frankreich, England, den USA, Schweden und Dänemark an die Uni Wien. Wohin man gehe, und wann im Lebenslauf man gehe seien strategische Entscheidungen, die gut überlegt sein wollen. Oft sei das auch davon abhängig, wo der Partner oder die Partnerin ebenfalls Arbeit findet oder wo die Kinder in die Schule gehen, so Tyran. Dass es gerade für junge ForscherInnen im Alter zwischen 30 und 40 Jahren, meist in der Post-Doc-Phase, schwierig sein kann, wenn die geforderte internationale Erfahrung auf ein Bedürfnis nach Sesshaftigkeit und Sicherheit trifft, kann der Vizerektor nachvollziehen. Doch wer „in der Spitzenliga“ mitspielen wolle, müsse mobil sein. Ins Ausland zu gehen werde durch die zahlreichen Austauschprogramme und Universitäts-Netzwerke jedenfalls immer einfacher, ist Tyran überzeugt.
Weggehen und ankommen. Auch für Markus Muttenthaler ist der Umzug von Brisbane nach Wien nicht der erste Ortswechsel. Seine wissenschaftliche Karriere führte den Chemiker neben Australien auch nach San Diego und Barcelona. Und doch ist es diesmal anders, ist doch neben seiner Frau Claudia, einer Kolumbianerin, auch der in Australien neugeborene Sohn mit dabei. Er sei schon immer gerne gereist, sagt der 39-Jährige. Interrail-Reisen in der Jugend, als Student für ein Jahr nach New York City, diverse Field trips an exotische Orte wie Papua Neuguinea oder in den brasilianischen Regenwald. „Das sind Erinnerungen, die du nie mehr vergisst.“ Manchmal müsse man sich freilich selbst ins kalte Wasser stoßen. „Man gibt sein bisheriges Leben praktisch auf, verkauft alles, fängt wieder von vorne an und muss sich wieder neu behaupten und etablieren.“ Das sei natürlich auch anstrengend, aber für den Karriereweg enorm wichtig, man lerne extrem viel dazu, ist Muttenthaler überzeugt. Als Zwang habe er diese, in der Wissenschaft zunehmend geforderte, Mobilität aber nie erlebt. „Für mich war dieses Reisen ins Unbekannte immer schon eine Lifestyle-Entscheidung.“ Und er hofft, nun auch mit Kind, diesen Lebensstil noch ein bisschen aufrechtzuerhalten.
„Man gibt sein bisheriges Leben praktisch auf,
verkauft alles, fängt wieder von vorne an
und muss sich wieder neu behaupten und etablieren.“
Ass.-Prof. Markus Muttenthaler Medizinchemiker, Universität Wien und University of Queensland, Brisbane
Als einen der größten Nachteile des Umherziehens nennt der Wissenschafter die mangelnde soziale Sicherheit. Beim Verlassen eines Landes werde etwa die bisher einbezahlte Pensionsversicherung wieder, hoch besteuert, ausbezahlt. Außerdem seien internationalen Stellen, gerade für junge ForscherInnen, häufig an Förderungen und Stipendien geknüpft, die keine Pensionsversicherung vorsehen. „Du hast dann zwar einen guten Karriereweg, aber stehst mit 40 Jahren ohne Pensionsvorsorge da“, erklärt Muttenthaler.
Auswandern und weiterziehen. Rund 574.700 ÖsterreicherInnen leben derzeit im Ausland1. Drei Viertel dieser „Expats“ haben sich in einem europäischen Land niedergelassen, großteils in Deutschland (257.000) und der Schweiz (65.000). Doch auch die USA (35.000), Großbritannien (25.000) und Australien (25.000) sind beliebte Ziele für Auslands-ÖsterreicherInnen. Schaut man sich an, wohin es AbsolventInnen der Uni Wien nach ihrem Studium verschlägt, sind neben den oben genannten „Klassikern“ auch exotischere Destinationen wie Papua Neuguinea, Madagaskar oder die Faröer Inseln unter den Zielländern zu finden. Eine aktuelle Auswertung von rd. 10.000 AbsolventInnen auf der Alumni Map zeigt, dass ein Viertel der eingetragenen Alumni im Ausland lebt.
Ins Ausland während des Studiums: 22% der AbsolventInnen der Uni Wien gingen während ihres Studiums ins Ausland, 65%
von ihnen kommen aus den Geisteswissenschaften, 73% sind Frauen. (Quelle: Universität Wien, International Report 2017)
Einer von Ihnen ist Marius Rummel. Der Absolvent der Politikwissenschaft hat sich nach dem Studium an der Uni Wien für Singapur entschieden. Ihn reizten die dynamische Entwicklung und die spannenden Jobmöglichkeiten in dem südostasiatischen Stadtstaat. „Als Absolvent eine Stelle zu finden, war sehr einfach, die Arbeitslosigkeit lag damals bei nur zwei Prozent“, erinnert sich der Alumnus an seine Anfänge in Asien. Neun Jahre ist Rummel in Singapur geblieben, wo er zuletzt für den deutschen Chemiekonzern BASF in der Kommunikation tätig war. Bis vor einem Jahr erneut ein Ortswechsel anstand. „Ich war von Singapur aus oft in ganz Asien unterwegs, bin aber bisher nie permanent versetzt worden. Als sich die Chance bot, für drei Jahre nach Brüssel zu gehen, habe ich gerne angenommen.“
„Verlangt“ die Wirtschaft nach dem mobilen Menschen, der ungeachtet dessen, ob ein Ortswechsel gerade zur jeweiligen Lebenssituation passt, für die Firma oder den Karrieresprung ins Ausland gehen muss? Die großen internationalen Unternehmen brauchen natürlich eine gewisse Durchmischung, meint Rummel. „Mein Vorgesetzter, der Kommunikationschef einer BASF-Sparte, ist Chinese. Das finde ich gut, weil China oder Asien allgemein bedeutsame Märkte sind und es für das Unternehmen wichtig ist, internationale Perspektiven zu haben.“ In dieser Hinsicht sei es natürlich zu begrüßen, wenn Menschen bereit sind, ihr Land zu verlassen und woanders zu arbeiten, aber das betreffe in erster Linie die großen internationalen Konzerne. „Wenn ich mich in meinem Freundeskreis so umschaue, sind viele in Wien geblieben und dort sehr glücklich und auch erfolgreich“, so der Alumnus. Ob Mobilität von den MitarbeiterInnen gefordert wird, kommt auf die jeweilige Firmenpolitik an, zwingend verlangt wurde sie in seinem Fall nicht. Insgesamt sei es eine Minderheit, die international arbeiten möchte und das mit etwas Glück auch könne. „In meiner Firma gibt es jedenfalls immer mehr InteressentInnen für internationale Stellen als Angebote“, sagt Rummel.
„In meiner Firma gibt es mehr InteressentInnen für internationale Stellen als Angebote.“
Mag. Marius Rummel Alumnus der Politikwissenschaft Global Communications Manager, BASF, Brüssel
Mobil und doppelt sesshaft. Mobilität und das Leben an mehreren Standorten beschäftigen den Sozialgeografen Peter Weichhart, wissenschaftlich wie auch privat. Als ihn im Jahr 2000 der Ruf an die Universität Wien ereilte, entschied sich die Familie dafür, den Wohnsitz im Salzburger Umland zu behalten, Weichhart mietete eine Arbeitswohnung in Wien und wurde zum Wochenpendler – Montag früh mit dem Zug nach Wien, Donnerstag abends wieder retour nach Salzburg. Die anfangs als Überbrückung gedachte Lösung entwickelte sich mit den Jahren zum attraktiven Lebensmodell für alle Beteiligten. Die persönliche Betroffenheit trug dazu bei, dass Weichhart sich auch wissenschaftlich mit residenzieller Multilokalität – dem Leben an mehreren Standorten – beschäftigte. Als Geograf interessiert ihn die Räumlichkeit sozialer und ökonomischer Phänomene. „Der Standort meiner Wohnung ist ein Faktor, der mein Leben wesentlich beeinflusst. Multilokal, also an mehreren Standorten zu wohnen, erweitert den persönlichen Aktionsraum und die sogenannten Standortofferten enorm“, so Weichhart, der selbst durch seine multilokale Lebensweise die Vorzüge und Angebote seiner insgesamt „drei Heimaten“, wie er sie nennt – am Salzburger Wallersee, in einem Wiener Innenstadtbezirk und im oberösterreichischen Mühlviertel – kombiniert.
Multilokal zu wohnen sei in Österreich längst zu einem Massenphänomen geworden, sagt der Sozialwissenschafter. Rund 1,3 Millionen ÖsterreicherInnen verfügen über einen Zweit- oder sogar Drittwohnsitz. Von residenzieller Multilokalität spricht man, wenn jemand mindestens zwei Wohnsitze hat, diese in der Regel auch abwechselnd nutzt und zum Zentrum seiner Lebensvollzüge macht. Die Motive dafür sind unterschiedlich: Ausbildung, Arbeit, Beziehungen oder Freizeitaktivitäten veranlassen Menschen zu einem multilokalen Leben. Und: Multilokale Lebensweisen sind keineswegs auf eine privilegierte Elite beschränkt, sie sind in den unterschiedlichsten sozialen Gruppen anzutreffen – WanderarbeiterInnen, Geschäftsreisende, Studierende, Scheidungskinder, WochenendhausbesitzerInnen, Geflüchtete u. v. m.
„Multilokal, also an mehreren Standorten zu wohnen,
erweitert den persönlichen Aktionsraum
und die Standortofferten enorm.“
Univ.-Prof. i.R. Peter Weichhart Sozialgeograf, Universität Wien
Multilokal unterwegs. Zentral im Zusammenhang mit einer multilokalen Lebensweise ist der Faktor Zeit. Zeit, die man jeweils an den verschiedenen Wohnorten verbringt, und Zeit, die man benötigt, um von A nach B zu gelangen, stellt Gertrude Saxinger fest. Die Kultur- und Sozialanthropologin untersucht, wie Menschen ihr mobiles und multilokales Leben meistern. Ihre Feldforschungsorte sind unter anderem die FernpendlerInnenzüge im hohen Norden Russlands, mit denen die ArbeiterInnen tagelang in die oft Tausende Kilometer entfernten Camps der Erdöl- und Erdgasindustrie gelangen. Dieser Übergang, in der Fachliteratur auch „Transitionsraum“ genannt, sei wichtig für die Menschen, die sich auf der Reise vom einen Ort, ihrem Zuhause, verabschieden und auf den anderen Ort, die Arbeit, vorbereiten können. „Ein besonderes Phänomen dabei ist, dass die Menschen in diesem Setting besonders offen zueinander sind, sehr persönliche Dinge besprechen, miteinander essen und trinken, so entsteht ein ganz eigenes Universum.“ Diese Offenheit sei möglich, weil man anonym mit Fremden reise und beim Verlassen des Zuges wieder auseinandergehe, so Saxinger.
Die Kultur- und Sozialanthropologin Gertrude Saxinger begleitete FernpendlerInnen auf ihrem Weg
zu den Erdöl- und Erdgasförderstätten im hohen Norden Russlands und führte über 150 Interviews und unzählige
informelle Gespräche in den Pendlerzügen. Im Bild der Bahnhof der russischen ErdgashauptstadtNovy Urengoy.
Im Gegensatz zum bekannten Sprichwort „Zeit ist Geld“ gelte für die FernpendlerInnen vielmehr: „Geld ist das Investment von Zeit“, sagt Saxinger. „Die ArbeiterInnen haben weit bessere Verdienstmöglichkeiten, wenn sie diese weiten Strecken in Kauf nehmen. Sie erweitern ihren Aktionsraum, indem sie die urbanen Gebiete mit den entlegenen, rohstoffreichen Regionen im Norden verbinden.“ Zu überwinden gelte es neben der geografischen allerdings auch eine emotionale Distanz. Welche Arrangements man sich mit der Partnerin/dem Partner, dem gesamten sozialen Umfeld aushandle, wie man die Perioden des Voneinander-Getrenntseins gestalte, sei ausschlaggebend für das Gelingen. „Die Familien müssen sich oft wirklich neu erfinden, wenn ein oder manchmal auch beide PartnerInnen fernpendeln.“ Sowohl die Person, die weggeht, als auch jene, die zurückbleibt, müsse ihr eigenes unabhängiges Leben führen können und das sei nur mit einem großen Grundvertrauen zueinander möglich. Dass es dabei oft ein starkes gegenseitiges Zugeständnis an Freiheit gebe, findet die Sozialanthropologin überraschend progressiv. Genauso wie die Tatsache, dass bei jenen FernpendlerInnen, die dieses Lebensmodell viele Jahre praktizieren, auch diese extreme Form der Mobilität irgendwann zur Normalität wird.
„Die Familien müssen sich oft neu erfinden, wenn ein
oder manchmal auch beide PartnerInnen fernpendeln.“
Dr. Gertrude Saxinger Kultur- und Sozialanthropologin, Universität Wien
In eineinhalb Jahren, wenn ihre Stelle als Post-Doc an der Uni Wien ausläuft, wird auch Gertrude Saxinger wieder vor der Frage stehen, ob und wohin sich das akademische Mobilitätskarussell für sie weiterdreht. „Ich glaube, diese Entscheidungen sind immer auch bestimmt von einem individuellen Set an Lebensumständen: Hast du Kinder oder pflegebedürftige Eltern? Ist der angebotene Job inhaltlich und finanziell wirklich so attraktiv? Bis du abenteuerlustig und offen genug, um leicht einen neuen bedeutungsvollen Freundeskreis aufbauen zu können? Und vor allem: Gibt es eine Option auf Rückkehr?“ Unabhängig davon, ob man plant, in eine andere Stadt zu ziehen, multilokal unterwegs zu sein oder ganz auszuwandern, kann es sinnvoll sein, sich vorab mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. •