Guter Nährboden. Sie erforschen antike Münzen, oder Sprachen, die keiner mehr spricht, sind fasziniert von Faltern und fremden Kulturen. Im breiten Fächerangebot der Universität Wien findet man zahlreiche Fächer, deren Nutzen nicht immer gleich offensichtlich ist. Doch dann ändert sich die Betrachtungsweise und sie stehen plötzlich im Rampenlicht oder landen einen richtig großen Coup – oftmals unerwartet, zufällig, wie es in der Wissenschaft eben passiert. Und auf einmal wird ihre Relevanz sichtbar. (Foto: Shutterstock/apiguide)
Leseprobe aus dem Schwerpunkt:
(K)ein Nischendasein
Text: Siegrun Herzog
Ihren Forschungsobjekten jagt Andrea Grill mit einem Netz hinterher. Bevorzugt in Sardinien, im Juni, denn da schlüpfen die zierlichen Gesellen. In kleinen Papiersäckchen, die sie für die Flugreise im Koffer sorgfältig in Schachteln packt, holt sie ihre Falter lebend heim nach Wien, ans Department für Botanik und Biodiversitätsforschung der Uni Wien. Andrea Grill ist Schmetterlingsforscherin und die sardische Tagfalterart Maniola nurag ihre Art. „Es war der Reiz, an Fragen zu arbeiten, die nicht alltäglich sind“, sagt Grill. Schmetterlinge gehörten zu den artenreichsten Spezies überhaupt, da können viele WissenschafterInnen ihre eigene Art finden, schmunzelt sie.
Die Faszination für das Seltene.Dr. Andrea Grill, Evolutionsbiologin, Universität Wien (Mitte) auf der Jagd nach ihren Forschungsobjekten: der Schmetterlingsart Maniola nurag – auch als Sardisches Ochsenauge bekannt.
Über 180 Studienfächer gibt es an der Universität Wien, die Forschungsbereiche sind noch um ein Vielfaches ausdifferenzierter, darunter SpezialistInnen, wie Andrea Grill, die im großen Fach Biologie ihre Nische fand. Oder Reinhard Wolters, der als Numismatiker ein typisches Nischenfach vertritt. Der unmittelbare Nutzen eines Faches erschließt sich oft nicht sofort. Und in Zeiten knapper Budgets sind ausgefallene Fächer immer wieder im Brennpunkt des Interesses, wird ihre Sinnhaftigkeit infrage gestellt. Was bringen sie? Wem nützen sie? Sollte man sie nicht besser zusammenlegen oder gar schließen?
Kleines Fach, große Bedeutung. Ob ein Fach klein oder groß ist, sieht Reinhard Wolters als historische Entwicklung. „Die Gesellschaft hat einen bestimmten Bedarf an gewissen Fächern, und das verändert sich über die Zeit“, so der Numismatiker. Vor knapp 100 Jahren galt beispielsweise die Quantenphysik innerhalb der Physik als eine Orchidee, heute würde sie niemand mehr anzweifeln. Die Entwicklung der letzten 30, 40 Jahre habe gezeigt, dass die Dinge, mit denen sich anfangs „ein paar Spinner“ auseinandergesetzt haben, zu neuen Phänomenen und Entwicklungen führten, sagt Quantenphysiker Anton Zeilinger gegenüber uni:view über die „verrückte Quantenwelt“.
Und auch Fächer wie die Sinologie, die Japanologie oder die Koreanologie, die unter dem Dach der Ostasienwissenschaften an der Uni Wien vertreten sind, stellt im 21. Jahrhundert, wo Asiens globale Bedeutung in demografischer wie auch in wirtschaftlicher Hinsicht stetig steigt, längst niemand mehr infrage.
Wie können wir heute wissen, was morgen gefragt sein wird? „Wir sollten kleine Fächer zumindest so halten, dass sie jederzeit aktivierbar sind, denn wir wissen nicht, was in Zukunft gebraucht werden wird“, gibt Wolters zu bedenken. Anstatt von Nischen- oder Orchideenfächern zu sprechen, scheint ihm die Bezeichnung „kleine Fächer“ passender. Sie sind in der Regel an wenigen Universitäten vertreten und weisen niedrige Studierenden- und AbsolventInnenzahlen auf. „Doch man sollte von der Größe des Fachs nicht auf den Gegenstand schließen“, warnt der Numismatiker.
Dass kleine Fächer oder kleine Fachbereiche oft große Thematiken abdecken, bestätigt auch der Islamwissenschafter Rüdiger Lohlker. „Ich beschäftige mich mit einer der größten Religionen weltweit. Der alte Orient war grundlegend für die menschliche Geschichte.“ Und: Kleine Fächer stehen nicht allein auf weiter Flur, sie docken in der Forschung wie in der Lehre bei ihren Nachbardisziplinen an, sind durchwegs interdisziplinär und auch schnell sehr international. Nischenfächer können daher nur an einer großen Universität gedeihen, ist der Islamwissenschafter überzeugt, wo sich die Fächer gegenseitig befruchten. Er selbst schätzt es, zum wissenschaftlichen Austausch einfach vor die Tür des Instituts für Orientalistik am Unicampus zu treten und um die Ecke ExpertInnen aus den Nachbargebieten, Altorientalistik, islamische Theologie, Judaistik oder Turkologie zu finden.
Starker Standort. Die Universität Wien sieht auch Melanie Malzahn als perfekten Standort für kulturwissenschaftliche und philologische Forschung. Der exzellente Ruf der Indogermanistik an der Uni Wien zog die Sprachwissenschafterin bereits als Studentin nach Wien. „Für die beste indogermanische Ausbildung musste man in den 1990er-Jahren, wenn man nicht nach Harvard konnte, nach Wien gehen“, erzählt sie. Malzahn ist eine von rund einem Dutzend ForscherInnen weltweit, die Tocharisch beherrschen. „Die engere scientific community passt praktisch in einen Fahrstuhl“, scherzt die Professorin für Vergleichende Indogermanische Sprachwissenschaft.
Die Sprache ist bereits im Mittelalter ausgestorben, sei aber unverzichtbar für die Rekonstruktion des Ur-Indogermanischen, jener Grundsprache, aus der sich alle indogermanischen Sprachen – Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Russisch u. v. m. – entwickelt haben. „Was wir hier machen, ist echte Detektivarbeit“, sagt Malzahn, denn „die Schriftstücke sind nur als Fragmente erhalten, die wir in Kleinarbeit zusammenpuzzeln müssen.“ Und genau das macht den Reiz und die Relevanz für die Sprachwissenschafterin aus: eine Sprache von Grund auf zu beforschen, die Grammatik zu analysieren, das Versmaß zu entschlüsseln, die Texte schließlich ins Englische zu übersetzen und so für andere zugänglich zu machen – das versteht man in der Sprachwissenschaft unter Grundlagenforschung.
Die Faszination für ihre Nische ist den „ExotInnen“ anzumerken, fast scheint es, als wären sie noch leidenschaftlicher bei der Sache, würden noch ein bisschen mehr brennen für ihr Fach als andere. „Unsere Studierenden sind extrem motiviert. Wer sich für ein solches Spezialgebiet entscheidet, ist mit größtem Einsatz dabei“, stellt Reinhard Wolters fest. Auch wenn ein Teil der AbsolventInnen nicht in der Forschung bleibe, würden Studierende durch die forschungsnahe Lehre, das Lernen in kleinen Gruppen und die gute Betreuungssituation profitieren. „Gerade in hoch spezialisierten Fächern lernen AbsolventInnen analytisch zu denken, selbstständig zu arbeiten und mit neuen Problemen kreativ umzugehen – Fähigkeiten, die ihnen überall zugutekommen“, ist Wolters überzeugt.
Raus aus der Nische. Wie schnell sich die Relevanz eines Faches ändern kann und was es heißt, vom unbeachteten Nischenfach plötzlich im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu stehen, hat der Islamwissenschafter Rüdiger Lohlker erlebt. Nicht lange habe es gedauert, bis sich die Medien nach den Ereignissen von 9/11 am Seminar für Arabische Studien in Göttingen meldeten, wo Lohlker zu dieser Zeit als Lektor arbeitete. „Für das Fach selbst war der 11. September nicht besonders einschneidend, koranwissenschaftliche, philosophische und theologische Schwerpunkte wurden weiter gepflegt, doch das öffentliche Interesse daran wurde befeuert.“ Plötzlich war Islam-Expertise gefragt. Lohlker erinnert sich an öffentliche Vorträge und kontroverse Diskussionen. Seit dem Vormarsch des IS und den Terroranschlägen in Paris ist Lohlker, der zu Jihadismus im Internet forscht, wieder ein beliebter Interviewpartner – von der „Kronen Zeitung“ bis zum saudischen Fernsehen.
Ein Orchideenfach als solide Berufsgrundlage.Das Studium der Arabistik an der Uni Wien erwies sich für Gudrun Harrer als Jackpot. Die leitende Redakteurin bei der Tageszeitung „Der Standard“ schildert den Wandel eines Faches aus persönlicher Sicht.
Auch die Forschungsarbeiten von Andrea Grill, der Schmetterlingsforscherin, könnten in Zukunft von großem Nutzen sein. Ihre Experimente führten zu einem verblüffenden Ergebnis: Schmetterlinge aus dem Mittelmeerraum lebten unter bestimmten Bedingungen plötzlich dreimal so lange wie üblicherweise. Den ForscherInnen gelang es durch künstliche Verlängerung der Lichtstunden pro Tag, das Leben der Insekten zu verlängern – eine Sensation. „Das ist bemerkenswert und kam für uns sehr überraschend, weil doch im Grunde jeder Organismus eine mehr oder weniger fixe Lebenszeit hat“, so Grill. Sie möchte als Nächstes herausfinden, wie der Vorgang genetisch gesteuert ist. „Das Ergebnis könnte einen größeren Impakt haben, auch für andere Organismen“, sagt Grill. Dann etwa, wenn HumanbiologInnen auf Grills Ergebnissen aufbauen und vielleicht auch einmal eine lebensverlängernde Formel für den Menschen finden.
Die Relevanz von seltenem Fachwissen zeigt sich eben oft erst auf den zweiten Blick. Auch ein kleines Land wie Österreich tue gut daran, die Expertise in sogenannten Orchideenfächern aufrechtzuerhalten, so Lohlker. „Wir brauchen den Kern, der dann austreiben kann“, bringt es der Islamwissenschafter auf den Punkt. Den Fundus an Wissen und Methodik bereitzuhalten und weiterzuentwickeln, um Antworten auf neue Fragen zu finden, diesem Anspruch stellt sich die Universität Wien mit ihrem breiten Fächerspektrum. Wenn sich die Themen der Gesellschaft ändern, entstehen auch neue Aufgaben und Fragen für die Universität. •